Ego Kultivierung bei der Rekrutierung
Der Artikel "Absage garantiert" hat folgenden @thinkaboutsport Kommentar bewirkt
"Das Ganze ist scheinbar, je nach zu evaluierender Funktion, eine Art Eiertanz voller Platitüden."
und mich zu ergänzenden Ausführungen - aus der Praxis für die Praxis - animiert..
@thinkaboutsport: Absolut richtig erkannt. Es besteht ein Dilemma beim gängigen Rekrutierungsprozess. Ist "nur" eine Person vom potenziellen Arbeitgeber anwesend, sind die Bewerber/innen - überspitzt gesagt - einem Lotteriespiel ausgesetzt. Der Rekrutierungsperson fällt eine Top oder Flop Entscheiderrolle zu, die häufig Entscheide zum Nachteil des Arbeitgebers bewirken. HR-Personen testen beim ersten Gespräch - typischerweise - "nur" Auftritt und Eindruck der Job-Interessenten. Dabei wird standardisiert vorgegangen, gemäss letztem Kurstag, Fachbuch oder bestenfalls nach internem Handbuch. Das muss zum Teil sicher so sein - keine Frage - da aber HR-Leute häufig die fachliche Qualität nicht genügend sicher abtasten können, richtet sich ihr Urteil sehr nach einem schnellen Multiple Choice Verfahren, d.h. es wird einfach in einer Box ein Häkchen gesetzt. Und das bietet unendlich Gelegenheit, einhe unkontrollierte Auswahlallmacht und persönliche Sympathiewerte - und sei es nur unterschwellig - auszuleben. Die Rechtfertigung einer Absage nach dem Interview ist nie ein Problem, weil ja die Multiple Choice Liste nach eigenem Gutdünken ausgefüllt wird. Und da @thinkaboutsport kann es schon reichen, dass man - an diesem Tag für die andere Person - zu lebendig ist, zu freundlich offen dreinblickt oder gar vom Hobby Bloggen erzählt und die HR Person darunter etwas Unanständiges versteht. Die Funktion im Arbeitsleben, lässt NIE Rückschluss auf Allgemeinwissen und schon gar nicht auf Aktuelles jenseits des geliebten Fachbereichs zu.
Es gibt Firmen, in denen selbst beim Erstgespräch immer zwei Personen anwesend sind, was zu einem Teil die obige Problematik entschärft. Es hilft nicht, wenn zwei HR-Leute die gleich ticken am Werk sind oder wenn eine der Personen einfach dem Ranghöheren nachplappert. Hilfreich ist es , wenn die Interviewer in Karriere-Konkurrenz zu einander stehen, dann exponieren sich die Personen - eher - mit unterschiedlichen Sichtweisen, wenn es einen Aufhänger dafür gibt.
Der Aufwand ist jedoch sehr gross- Zeitaufwand und entsprechende Absenz vom eigentlichen Arbeitsplatz - d.h. es entstehen hohe Kosten für das Erstscreening. Jeder Flop, d.h. jede Fehlbestzung kostet zwar ein Vielfaches, aber die Erkenntnis dass dies regelmässig passiert fehlt in den Unternehmen und vor allem bei den Managern.
Oft erzählen mir Bewerber nach dem Interiew und ich erlebe es auch immer wieder Live, dass Erwachsene nach 20 oder 30 Jahren Berufserfahrung, unendlich zur Berufswahl oder zu Diesem oder Jenen befragt werden, was Jahrzehnte her ist und bei einem entsprechenden Leistungsausweis als Episode - Farbtupfer - angesehen werden kann. Stattdessen muss man solche Fragen übezeugend und a u s f ü h r l i c h beantworten. Wem dazu die Geduld oder Redefreudigkeit ausgeht, der fällt gnadenlos durch den Raster bei den "ich entscheide Schauspielern." Aber Achtung, man darf auch nicht endlos über ein Thema - Reisen, Kochen, Turnen etc. - reden, wenn die Gegenseite nicht immer wieder mit einer Frage nachfasst. Das Feuer muss für die neue Stelle spürbar sein und nicht für alles Andere und die Arbeit verkommt zum notwendigen Übel. Das Hinterfragen von einer Auszeit, von Reisen etc. nach dem Studium ist sicher bei Jungen notwendig und richtig, aber bei 40 bis 50 Jährigen mit wertvoller Berufspraxis dient diese Gesprächsführung nur dem Zweck zu zeigen, wer die Spielregeln festlegt. HR-Leute führen halt oft gerne Gespräche, die nichts mit der Kernkompetenz der Wechselwilligen zu tun, weil sie bei den Fachkomptenzen gar nicht mithalten können.
Es ist ein teuerer Spass für die Firma, wenn sich die HR-Leute beim Erstgespräch aufführen dürfen, wie wenn ihnen die Firma gehören würde. Im Interesse der Firma ist es nämlich nicht, wenn zu den tollen, eingespielten Teams farblose Verstärkung gesucht wird. Wenn alle gleich gut sein müssen und niemand anders sein darf, kommt es nicht zu innovativen Prozessen, nicht zum infrage stellen alter Abläufe und stehengebliebener Prozesse, nicht zum Verlassen ausgetretener Fussspuren!
HR-Leute sollten zwecks Läuterung gelegentlich in ein Rollenspiel gebracht werden, in dem sie sich bei den Mitarbeitenden für die HR-Funktion bewerben müssen, die sie aktuell belegen. Es könnte heil- und lehrsam sein. Für alle Beteiligten.
Aktualisiert und ergänzt 05.11.2010 13.10